Die Gondeln schlafen noch

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Der frühe Morgen gehört mir. Die Stadt schläft noch, eingehüllt in einen Schleier aus feuchtem Dunst, der über die Lagune kriecht. Ich stehe am Kai, die Hände um eine Tasse warmen Kaffee geklammert, und blicke hinaus auf das Wasser. Es ist diese Stunde, bevor die ersten Vaporetti ihre Motoren starten und die Touristenmassen erwachen, die ich am meisten liebe.

Die Luft ist kalt und riecht nach Salz, Nebel und einem Hauch von altem Stein. Der Dunst ist so dicht, dass er die Welt in Pastellfarben taucht: ein zartes Rosa und Lavendel am Horizont, wo die Sonne noch kämpft, und ein tiefes, melancholisches Blau im Wasser.

Direkt vor mir liegt die Spitze einer Gondel, ihr Ferro ragt wie ein stählernes Blatt aus dem Wasser. Die sechs Zinken, die die Sestieri Venedigs symbolisieren, sind scharf und elegant gegen den Nebel gezeichnet. Die Gondel selbst ist ein dunkler, glänzender Schatten, der sanft an den Pali schaukelt – den Holzpfählen, die aus dem Wasser ragen wie Wächter. Ich höre nur das leise, rhythmische Quietschen des Holzes und das gedämpfte Plätschern des Wassers, das gegen den Rumpf schlägt. Es ist der Herzschlag der Stille.

Mein Blick sucht durch den Nebel. Dort, in der Ferne, erhebt sich die Silhouette von San Giorgio Maggiore. Der Campanile ist nur ein Schemen, seine Spitze verliert sich im Weiß. Die Kuppel der Basilika ist weichgezeichnet, ein architektonisches Gespenst, das aus dem Nichts auftaucht. Die ganze Szene wirkt unwirklich, wie ein Traum, der jeden Moment zerfließen kann.

Ich bin Chiara Anselmi, und ich bin eine Beobachterin. Ich bin müde von den Gedanken des gestrigen Tages, aber in dieser Stille finde ich eine tiefe, fast poetische Ruhe. Es ist ein Moment der Einsamkeit, der nicht leer ist, sondern gefüllt mit der Magie des Unausgesprochenen. Ich fühle die Kälte in meinen Wangen und die Wärme des Kaffees in meinen Händen. Hier, in diesem flüchtigen Licht, in dieser feuchten Stille, bin ich ganz bei mir. Ich sauge die melancholische Schönheit dieses Augenblicks ein, bevor die Welt erwacht und ihn mir wieder nimmt. Es ist mein Geheimnis, mein stiller Anfang.

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