Leseprobe aus „Seele im Exil“
Aus Kapitel 3: Risse im Eis
Eva kam wieder. Nicht am nächsten Tag, nicht einmal in der nächsten Woche. Es waren zehn Tage vergangen, zehn Tage, in denen ich mich dabei ertappte, wie ich auf jeden Schritt auf dem Kiesweg lauschte, wie ich zum Wanderweg blickte, wenn ich auf der Terrasse saß. Zehn Tage, in denen ich mir einredete, dass es mir egal war, ob sie wiederkam oder nicht. Zehn Tage der Lüge.
Es war ein Donnerstagnachmittag, die Sonne stand tief und warf lange, goldene Streifen über den See. Ich saß auf der Terrasse und versuchte, mich auf ein Buch über Verhaltensökonomie zu konzentrieren, als ich sie sah. Sie kam den Wanderweg entlang, denselben Rucksack auf dem Rücken, dieselbe selbstsichere Gangart. Mein Puls beschleunigte sich, eine unwillkürliche, ärgerliche Reaktion.
Sie sah mich, hob kurz die Hand zum Gruß und kam direkt auf mein Grundstück zu. Keine Zögerung, keine Frage, ob sie willkommen war. Sie behandelte den Raum, als gehörte er ihr genauso wie mir.
„Hallo, Julian“, sagte sie, als sie die Terrasse erreichte.
„Eva“, erwiderte ich und legte das Buch beiseite. „Lange nicht gesehen.“
„Ich war unterwegs“, sagte sie und ließ ihren Rucksack auf den Boden fallen. „Darf ich mich setzen?“
„Natürlich.“
Sie setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber, streckte ihre Beine aus und seufzte zufrieden. „Das ist ein guter Platz. Man könnte hier Stunden verbringen und einfach nur schauen.“
„Das tue ich“, sagte ich.
Sie lachte leise. „Ja, das glaube ich. Sie haben das Gesicht eines Mannes, der zu viel Zeit zum Nachdenken hat.“
„Ist das eine Kritik?“
„Eine Beobachtung.“ Sie lehnte sich zurück und schloss für einen Moment die Augen. „Haben Sie Wein?“
Die Frage war direkt, fast fordernd. Ich stand auf und ging ins Haus. In der Küche öffnete ich eine Flasche Rotwein, einen guten Bordeaux, den ich seit Monaten nicht angerührt hatte. Ich nahm zwei Gläser und kehrte auf die Terrasse zurück.
„Sie sind direkt“, sagte ich, als ich ihr ein Glas reichte.
„Das Leben ist zu kurz für Umschweife“, antwortete sie und nahm einen Schluck. „Gut. Sie haben Geschmack.“
„Ich hatte Geld“, korrigierte ich. „Geschmack ist etwas anderes.“
„Zynisch.“
„Realistisch.“
Wir tranken schweigend. Es war keine unangenehme Stille. Sie war anders als die Stille, die ich mit Lena teilte. Mit Lena war die Stille geladen mit unausgesprochenen Erwartungen, mit Dingen, die sie sagen wollte, aber nicht wagte. Mit Eva war die Stille nur… Stille. Sie brauchte sie nicht zu füllen.
„Was machen Sie hier?“, fragte sie schließlich. „Ich meine, warum sind Sie hier, an diesem See, in diesem Haus?“
„Ich bin geflohen“, sagte ich. Die Worte kamen, bevor ich sie zurückhalten konnte.
„Wovor?“
„Vor mir selbst, vermutlich.“
Sie nickte, als wäre das die selbstverständlichste Antwort der Welt. „Und? Hat es funktioniert?“
„Was denken Sie?“
„Ich denke, man kann nicht vor sich selbst fliehen. Man nimmt sich immer mit.“
„Dann war es eine teure, nutzlose Übung.“
„Nicht unbedingt nutzlos“, sagte sie und blickte auf den See. „Vielleicht mussten Sie hierher kommen, um das zu erkennen.“
Aus Kapitel 6: Die Leere danach
In der Woche nach Lenas Abschied fühlte sich das Haus seltsam an. Nicht leerer – mit Eva war es tatsächlich voller als je zuvor. Aber es fühlte sich unvollständig an, als fehlte ein wichtiges Element. Ich vermisste Lena nicht im romantischen Sinne, aber ich vermisste ihre Präsenz, ihre stille Effizienz, die Art, wie sie das Haus zum Leben erweckte, ohne Lärm zu machen.
Vor allem aber vermisste ich die Illusion. Die Illusion, dass alles in Ordnung war, dass mein Leben funktionierte, dass ich die Kontrolle hatte. Lena hatte diese Illusion aufrechterhalten. Sie hatte die Oberflächen poliert, die Kissen aufgeschüttelt, die Risse verdeckt. Ohne sie waren die Risse sichtbar. Das Haus war unordentlich, chaotisch, ehrlich.
Am nächsten Morgen wachte ich mit einem Gefühl auf, das ich nicht benennen konnte. Es war nicht Vorfreude, nicht Angst. Es war eine Art Erwartung, eine Spannung, die in der Luft lag wie die elektrische Ladung vor einem Gewitter. Ich ging wie immer zum See, ruderte in die Mitte, ließ das Boot treiben. Aber die Routine fühlte sich anders an. Ich ertappte mich dabei, wie ich zum Ufer blickte, zum Wanderweg, als würde ich jemanden erwarten.
Ich verbrachte den Tag damit, zu lesen, zu kochen, die Stunden totzuschlagen. Aber meine Gedanken waren woanders. Ich analysierte die Begegnung mit Eva, sezierte jedes Wort, jede Geste. Was hatte sie gemeint, als sie sagte, der See sei tief und kalt? War es eine Beobachtung oder eine Warnung? Und warum kümmerte es mich überhaupt?
Die Tage vergingen langsam. Ich fiel zurück in meine Routinen, aber sie fühlten sich hohl an, bedeutungslos. Ich ruderte, ich kochte, ich las. Aber alles war nur noch ein Warten. Ein Warten auf etwas, das vielleicht nie kommen würde. Und in diesem Warten erkannte ich etwas über mich selbst, das ich nicht wahrhaben wollte: Ich war einsam. Nicht die Art von Einsamkeit, die ich gesucht hatte, die kontrollierte, gewählte Isolation. Sondern eine tiefe, schmerzhafte Einsamkeit, die aus der Erkenntnis entstand, dass ich unfähig war, eine echte Verbindung zu einem anderen Menschen herzustellen.
Aus Kapitel 7: Gefrorene Zeit
Der Winter kam mit voller Wucht. Nicht allmählich, nicht sanft, sondern wie eine Faust, die sich um den See schloss und alles Leben aus ihm presste. Die Temperaturen fielen unter minus fünfzehn Grad, blieben dort tagelang. Der See fror vollständig zu, eine dicke Eisschicht, die unter dem Schnee verschwand. Die Welt wurde monochrom: weiß, grau, schwarz. Keine Farben, keine Nuancen, keine Hoffnung.
Das Haus, das im Sommer so offen und luftig gewirkt hatte, wurde zu einer Falle. Die großen Fenster, die ich so geliebt hatte, ließen die Kälte herein. Die Heizung lief ständig, aber es war nie warm genug. Ich trug Schichten von Kleidung, wickelte mich in Decken, saß vor dem Kamin. Aber die Kälte war nicht nur physisch. Sie war in mir, in meinen Knochen, in meinem Herzen.
Ich begann, mit mir selbst zu sprechen. Nicht laut, nicht am Anfang. Nur in meinem Kopf, ein ständiger innerer Monolog. Aber nach ein paar Wochen bemerkte ich, dass ich die Worte aussprach, dass ich Gespräche mit imaginären Gesprächspartnern führte.
„Was machst du hier?“, fragte ich mich selbst, während ich vor dem Fenster stand und auf die weiße Leere starrte.
„Ich warte“, antwortete ich.
„Worauf?“
„Ich weiß es nicht.“
„Das ist keine Antwort.“
„Es ist die einzige, die ich habe.“
Ich wusste, dass es nicht gesund war. Ich wusste, dass ich die Grenze zur Instabilität überschritt. Aber ich konnte nicht aufhören. Die Stimmen waren das Einzige, das die Stille durchbrach, das Einzige, das mich daran erinnerte, dass ich noch existierte.
Ende der Leseprobe
„Seele im Exil“ – Ein Roman über die Unmöglichkeit der Flucht und den Mut zum Neuanfang.